1974, als man mich als Obertertianer zum Präsiden wählte, waren wir noch 13 aktive Mitglieder. Ich fühlte mich musikalisch für die Aufgabe gerüstet; Kantor Wagner, der mich als Quartaner bei einer Rundfunkaufnahme von Honeggers Cantate de Noel, die unsere Kantorei zusammen mit Alexander Wagners Hochschulchor und der NWD Philharmonie in Detmold aufführte, sogar das Sopran-Solo singen ließ, gab mir Tipps für die Probenarbeit. Von Carl-Theodor Hütterott, der ja nicht nur wegen seiner früheren Zusammenarbeit mit James Last ein großer Jazzer war, gab es für mich viele Impulse. Der ESG-Musiklehrer Arnold Möller, den ich jetzt erst kennenlernte, war ja in den 30er Jahren selbst Vorzeige-Präside und leitete seit 6 Jahren im Nebenjob die neugegründete Kreis-Musikschule Gütersloh. Er gab mir Tipps zum richtigen Dirigat. Ich selber hatte gerade im Nebenjob die Organistenstelle in der katholischen Christ-König-Kirche in Gütersloh übernommen, was mir im musikalischen Reifungsprozess sehr half und dem Posaunenchor neue Möglichkeiten eröffnete. Aber da war es wieder, das katholisch-sein am ESG. OStD Dr. Hans Hilbk, seit 2 Jahren unser neuer Direktor, wies mich im Vorstellungsgespräch als gewählten Präsiden darauf hin, dass es doch einflussreiche Leute gäbe, die es „unpassend“ fänden, einen Katholiken an der Spitze des traditionsreichen Posaunenchors zu sehen. Er selbst hielt es nicht für „unpassend“ und würde mich darauf auch nie wieder ansprechen. Er entwickelte sich in den Jahren zu einem respektvollen Ratgeber. So konnte es losgehen. Meine erste Amtshandlung war, das vorgesehene Weihnachtskonzert abzusagen, da zumindest ich noch nicht reif dazu war. Aber die Christvesper in der Aula wurde von uns zusammen mit der Kantorei traditionell mitgestaltet. Und am Heiligabend um 24.00 Uhr haben wir vom Türmchen geblasen – vor damals 50!! Zuhörern. Am Ende meiner Präsidenzeit standen dort über 2000 – und es wurden immer mehr. Wir rührten die Werbetrommel für neue Mitglieder, und zwar in allen Klassenstufen. Die Probenanzahl wurde verdoppelt, wir probten nun montags um 18.00 und freitags um 19.00. In den Proben gab es klare Ansagen, es gab nur einen Chef. Zur Anwesenheitskontrolle und auch eine Art Qualitätskontrolle führten wir ein Klassenbuch mit Protokollnotizen ein. Zur Durchsetzung effektiver disziplinierter Proben setzte ich schon mal drastische Mittel ein – so durchbohrte die Spitze des geschleuderten Dirigierstabs einmal die Lippe eines Trompeters, der sich daraufhin „bei mir“ entschuldigte (heute undenkbar, der so getroffene ist heute angesehener Jurist mit einer Professur in Berlin). So diktatorisch die Proben auch anmuteten, nachher in Meier´s Sprottendiele oder in der Kellerbar unseres Schlagzeugers, dem Sohn eines benachbarten Arztes, ging es dann basisdemokratisch zu; ich wurde kritisiert, was das Zeug hält – und wir schmiedeten Pläne und Strategien…. Und wir rührten in allen Altersstufen die Werbetrommel für neue Mitglieder. So wurden im Laufe meiner Präsidenschaft aus den 13 Mitgliedern nach und nach eine Mannschaft von über 40 Posaunenchörlern und immer auch einer Schar Füchse.
Weihnachten mit Eintrittskarten
Eine dieser umstrittenen Entscheidungen, die ich gegen eine große Mehrheit vor allem der älteren Mitglieder durchsetzte, war der Verkauf von Eintrittskarten für das Weihnachtskonzert. So musste man 1975 zum ersten Mal Eintritt für den Besuch eines Posaunenchorkonzerts bezahlen: 4,- /2,- DM, und es gab keine Freikarten, weder für die Schulleitung noch das Kuratorium oder sonstige Honoratioren. Der Erfolg gab mir recht. Die Evangeliumskirche war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das waren dreimal so viele Besucher wie in den Vorjahren. Man interessierte sich also für uns, das motivierte. Und es gab Applaus, auch das war damals in einer Kirche noch selten. Wir spielten unten im Altarraum, begannen mit Schütz aus den Symphoniae sacrae und endeten, nachdem der rote Faden durch die Jahrhunderte der Advents- und Weihnachtsliturgie führte, mit Musik von Georg Friedrich Händel, einem Trompeten-Ruf, dem Siegesmarsch aus Judas Maccabäus, und einer Choralbearbeitung seines Siegeschorals „Tochter Zion“. Diese Bearbeitung für Gemeinde, Bläser, Orgel, Junktimchor, Pauken und Trompetenoberstimme hatte ich in einer Bibliothek in Kassel entdeckt. Sie ist seitdem fester Traditionsbestandteil eines jeden Posaunenchor-Weihnachtskonzertes und ist nicht nur am ESG „der Schlager“ der Weihnachtszeit. Für die meisten Stücke waren zu der Zeit keine Noten für Blechbläserensemble verfügbar, sodass eine meiner Aufgaben im Vorfeld war, Noten zu schreiben, zu transponieren und anzupassen, und das vornehmlich in den morgendlichen Schulstunden. Die aktive Mannschaft war zwar schon größer geworden, aber ohne Altschüler konnten wir das anspruchsvolle Programm noch nicht umsetzen. So saßen die Aktiven vorne im Altarraum. Auf der Empore stand ein Altschüler-Soloquartett, mit dem wir dann doppelchörige Sätze alter und moderner Meister spielten. Dazu konnten wir neben Joachim Thalmann und Auwi Schwedler auch Michel Timm (heute Mitglied des Rundfunkchores Berlin) und Hans-Ulrich Henning (heute Leiter des international renommierten Jugendkammerchors Christopherus Versmold) gewinnen. Zwei weitere Altschüler, Rolf Wischnath, der ja in seiner aktiven Posaunenchorzeit Bundessieger bei Jugendmusiziert im Fach Trompete war, und Jimmy Bermpohl, zu der Zeit 1. Solotrompeter beim Heeresmusikkorps der Bundeswehr, musizierten u.a. das Doppeltrompetenkonzert von Manfredini. Die Orgelbegleitung übernahm ein Klassenkamerad von mir, Rainer Huhnt; Rainer war unter uns musikalischen Schülern (Silke-Thora Matthies, heute Klavier-Professorin und Rektorin an der Hochschule für Musik in Würzburg; Rainer Worms, heute Geschäftsführer Musiktheater am Landestheater Detmold; Peter Kreutz, heute Professor für Liedgestaltung an der HfM Detmold; Volker Schrewe und Felicitas Jacobsen (heute beide Gesangssolisten und Lehrende) wohl der Begabteste. Umso schrecklicher sein früher Tod kurz nach dem Abi. Sein Bruder Wolfgang Huhnt (heute Professor für Bauinformatik an der TU Berlin) war bei uns Posaunist. Die Presse rezensierte durchaus positiv über unser Konzert „Hohes Ziel gesteckt und erreicht: traditionelle und moderne Sätze von mittlerem bis hohem Schwierigkeitsgrad musizieren und den Willen sowie das Vermögen, anspruchsvollere musikalische Breitenarbeit zu leisten“, „das Konzert bewies, dass der Posaunenchor gegenwärtig im Begriff ist, Leistung und Niveau seiner Bläserarbeit zu steigern“, „Nach diesem so erfolgreichem Konzert strebten wir größeres an. Nach der vollen Evangeliumskirche war das nächste Ziel, den größten Kirchenraum Güterslohs, die doppelt so große Martin-Luther-Kirche zu füllen. Und mein Ziel war es, das Konzert ohne Alte Herren nur mit Schülern zu gestalten. Doch vorher ging es an das Jahresprogramm, unsere „weltliche“ Seite. Die Kasse war gefüllt, nicht nur durch die Eintrittsgelder, sondern auch die zusätzliche Kollekte nach dem Konzert und Spendengelder.
Fanfarenmärsche und BigBand-Sound
Die Kassenlage motivierte uns, neue Instrumente zu kaufen: mit Theo Renninghoff, unserem Protektor nach August Köhring, fuhr ich nach Voltho zum Blechblasinstrumetenbauer Finke, und es gab eine neue Tuba, Bariton, Tenorhörner und Posaunen. Und wir orderten neue Kesselpauken von Ludwig, kauften 4 Landsknechtstrommeln, erneuerten die 4 Fanfaren und ließen Tücher mit dem Posaunenchor-Zirkel für die Fanfaren nähen. Dazu kamen einige Percussion-Instrumente; eine komplette „Schießbude“ (Schlagzeug) besaß unser Schlagzeuger Matthias „Monkey“ Gwosdz, der sonst in der Rock-Szene zuhause war, privat. Im Bewusstsein, dass unser hergebrachtes Repertoire von Märschen und Volksliedern kaum noch jemanden vom Hocker riss, wollten wir nämlich einen musikalischen Spagat probieren, und das sicht- und hörbar: auf der einen Seite preußische Märsche, und wenn schon Märsche, dann auch Fanfarenmärsche mit kleiner Show, und auf der anderen Seite sollte es in Richtung Big-Band-Sound gehen im Glenn-Miller-Stil; und dazwischen ruhig Volkslieder, aber arrangiert wie von James Last. Wir konnten uns dafür begeistern – und unsere Zuschauer auch. Doch erstmal hieß es üben, üben. Unsere Trainingslager (Freizeiten) führten uns während meiner Präsidenzeit nach Iserlohn, Osnabrück, Damme und Körbecke am Möhnesee. Wir nutzten dazu die Herbst-, Oster- oder Pfingstferien, z.T. mit zusätzlichen freien Tagen der Schulleitung.
Und wir waren fleißig, auch bei der Anzahl unserer Auftritte in der Öffentlichkeit. Natürlich war es uns auch während des Jahres wichtig, mit Kirchenmusik zu glänzen, ob nun bei Gottesdiensten in der Aula, dem anschließenden Konzertieren vom Balkon oder dem „Türmchen“, dem musikalischen Gruß zuhause bei jedem unserer Konfirmanden oder dem Kurrende-Blasen in den Gütersloher Krankenhäusern und Altersheimen. Eine Komponente trat nun durch meine musikalischen Orgel-Aktivitäten in den Gütersloher Katholischen Gemeinden hinzu: wir traten zunehmend auch in katholischen Messen auf. Und so gab es in der Zeit in Güterslohs katholischen Gemeinden kaum ein Priester- oder Gemeindejubiläum, kaum eine Primizfeier, kaum ein Gemeindefest (das waren damals noch richtige Volksfeste), bei dem wir nicht in der Kirche den Gottesdienst musikalisch gestalteten und anschließend vor der Kirche ein Platzkonzert in Unform gaben. Und da haben wir dann unseren neuen Sound, der schon ein wenig an Glenn Miller erinnerte, präsentiert. – und wir haben uns (Gütersloh hatte ja ebenso viele katholische wir evangelische Christen) neben der traditionellen ESG-Gemeinde ein erweitertes Publikum und Fans aufgebaut.
Natürlich wurde auch die damals neue Fußgängerzone Berliner Straße durch uns eröffnet. Es gab Konzerte am 1. Mai auf dem Marktplatz, das gemeinsame Pfingstfrühkonzert mit dem Turnergesangverein (unter der Leitung von Carl-Theodor Hütterott) am Bockskrug im Stadtpark, beim „Tag der Heimat“ in der Aula des „Mädchen-Gymnasiums“ (heute Städt. Gymnasium), beim „Tag des ausländischen Mitbürgers“(heute Gütersloh International), beim Michaelisabend zum 150. Stadtjubiläum Güterslohs. Wir nahmen am Michaelisumzug teil, 1975 sitzend auf einem geschmückten Transporter, und 1976 marschierend mit Landsknechtstrommeln und Tambourstab mit kleinem Sonderkonzert vor der Rathaustribühne, was wohl so beeindruckte, dass man uns auswählte, die Urkunden-Unterzeichnung der ersten Städtepartnerschaft Güterslohs mit riesigem Gefolge in Chateauroux musikalisch zu begleiten. Wir waren in der Öffentlichkeit ständig präsent bei Auftritten und durch Zeitungsartikel. Es gehörte mittlerweile zum Gütersloher Stadtbild, dass man überall junge Fahrradfahrer sah mit Schülermütze oder Uniform und einem Blasinstrument auf dem Rücken. Wir hatten uns zum Aushängeschild des ESG und der Stadt entwickelt.
Es gab immer wieder Geburtstage und Jubiläen, zu denen wir gefragt waren, wie das 700-Jährige auf dem Hof Meier-Raßfeld (Friedrich-Wilhelm Haver blies bei uns mit, genau wie dann später wiederum sein Sohn Tetzel), oder der 88. Geburtstag des Gütersloher Heimatmalers Paul Westfrölke, der uns als Altschüler und ehemals 1. Trompeter viele Anekdoten aus dem Kaiserreich und unserer alten Penne erzählen konnte.
125 Jahre ESG
Und im Sommer 1976 kam dann das Jubiläum „125 Jahre ESG“. Wir waren an vielen Projekten beteiligt. Zum Jubiläum wurde eine Langspielplatte produziert „Musik zum Stiftungsfest“, auf der sich die drei Musikensembles des Gymnasiums verewigen sollten: das Orchester unter Arnold Möller, die Kantorei unter Gottfried Wagner und natürlich der Posaunenchor. Der Aufwand, der dafür betrieben wurde, ist heute in Zeiten von Youtube kaum noch vorstellbar. Es gab mehrere Planungssitzungen mit den Tonmeistern von Bertelsmann im Direktorenzimmer. Die Schule wurde für 2-3 Tage umfunktioniert in ein riesiges Aufnahmestudio. Da ich auch im Orchester als Trompeter und in der Kantorei mitwirkte, war ich dort stetig eingespannt. Der Posaunenchor war mit dem Petersburger Marsch, einem modernen Stück und einem Bach-Choral vertreten. Natürlich gab es eine Festschrift und ein Programmheft zum Jubiläum – und eine Ausstellung über 125 Jahre ESG. Sie war die erste Ausstellung im neuen Heimathaus Güterslohs Am Domhof (heute steht dort die Stadtbibliothek). Geschichtslehrer Dr. Ludger Kerssen gestalte die Ausstellung mit vielen Original-Exponaten aus der Schulgeschichte. Für die Geschichte des Posaunenchors wurde ein separater Raum eingerichtet, und ich half, die entsprechenden Exponate aufzutreiben und zu drapieren. Zur Eröffnung des Heimathauses gab es von uns ein Platzkonzert am Domhof, dem geschichtlichen Anlass angemessen mit Fanfarenmärschen. Das Stiftungsfest selbst begann am 18. Juni morgens mit dem Choralblasen vom Turm der Martin-Luther-Kirche und einem Festgottesdienst eben dort. Der sich anschließende Sektempfang und Festakt in der Aula fand dann seinen Abschluss in unserem Platzkonzert vor dem Portal des ESG. Bei bestem Sonnenschein boten wir mit unseren Uniformen und blitzenden Fanfaren und Instrumenten ein tolles Fotomotiv, dass sich anschließend in manchen Chroniken und Gütersloh-Büchern wiederfand. Parallel hatten wir eine kleine Bildergalerie auf Stellwänden vorbereitet, die dann auf dem Platz den Zuhörern Einblicke in unsere Posaunenchorgeschichte bot. Am nächsten Tag waren ein großes Schulfest und Tag der offenen Tür auf dem gesamten Gelände, bei dem wir wiederum für die musikalische Unterhaltung sorgten. Und abends wurde in Wiltmanns Festsälen gefeiert mit Tanzband, einer Altschüler-Jazzcombo und dem Posaunenchor.
Europa tanzt
Eine besondere Beziehung hatte der Posaunenchor nicht nur zum Marschieren, was wir im Sommer 76 auf dem Schulhof und auf der Feld- und Daltropstraße, vermutlich zum Leidwesen der Anwohner, ausgiebig probten (wir wollten ja beim Michaelisumzug glanzvoll marschierend auftreten, um dann nach Châteauroux eingeladen zu werden), sondern auch zum Tanzen. Mädchen wurden ja an unserer Schule erst nach und nach gesichtet, sodass man sich eigentlich immer mit einer Klasse vom Städt. Gymnasium (Mädchen-Gymnasium) zusammentat, um einen Tanzkurs zu absolvieren. Um „man“ tanzte bei Stüwe. Und es war schon eine kleine Tradition, dass der Posaunenchor, wenn jemand von uns Abschlussball bei Stüwe hatte, in den Tanzsaal als Programmpunkt des Abends einmarschierte. Ein weiterer Programmpunkt war oft das Schautanzen von Helga Stüwe und Gerd Weißenberg, die gerade eine internationale Karriere im Tanzsport hinlegten, und Gütersloh dadurch eine Tanzhochburg wurde. So waren wir oft Gäste dort, tanzten, musizierten und feierten; und es passierte auch schon mal, dass bis zum Adventsblasen am nächsten Morgen durchgefeiert wurde. Zu Finchen Stüwe hatten wir eine herzliche Beziehung aufgebaut; und so lud sie uns einmal zum sportlichen Höhepunkt von Helga und Gerd ein, der Europameisterschaft in den lateinamerikanischen Tänzen. Die wurde, von allen Medien übertragen, in der Dortmunder Westfalenhalle ausgetragen. Und wir marschierten mit unserer Musik zur Eröffnung in die Halle auf das Parkett und spielten unsere Swing-Musik. Die Halle tobte (vor allem die 600 aus Gütersloh angereisten Fans), Europa tanzte und Gütersloh marschierte, so die Überschrift in den Zeitungen.