In Paris fliegen Pflastersteine, in Berlin wird die Freie Universität durch Grundsatzdiskussionen lahmgelegt, Andreas Baader und Gudrun Ensslin verüben erste Brandanschläge – und am Evangelisch Stiftischen Gymnasium Gütersloh probt eine Gruppe Jugendlicher aus speckigen Noten preußische Heeresmärsche. Die in diesem Genre so wichtige Klappstimme fehlt, denn für das Waldhorn kann sich seit langem kein Freiwilliger mehr begeistern. Und auch sonst klingt das, was aus der ausgekühlten und nach petrifiziertem Bohnerwachs riechenden Schulklasse nach außen dringt, in jeder Hinsicht vorläufig. Lediglich die lässig über die Stuhllehnen geworfenen, verwaschenen Parkas lassen erahnen, dass man auch in Gütersloh das Jahr 1968 schreibt …
Ich fühlte mich als 15-jähriger Präside in meiner Haut nicht sonderlich wohl, weil ich den Penne-Posaunenchor auf sein 100-jähriges Jubiläum hinführen sollte – und noch viel unwohler, weil ich gleichzeitig im Posaunenchor und in der Knabenkantorei des ESG aktiv war. Aus Unterhaltungen mit Posaunenchor-Urgesteinen hatte ich nämlich herausgehört, dass das Verhältnis zwischen Kantor Gottfried Wagner und dem Posaunenchor denkbar schlecht sei – und dass dies unter allen Umständen auch so bleiben müsse. Argwöhnisch wittern die Bläser-Veteranen durch meinen Kontakt zum polyphonen Gesang Verrat am Posaunenchor-Lebensgefühl. Ich jedenfalls versteckte mein verbeultes Waldhorn in einer großen Einkaufstasche, wenn ich als Elfjähriger freitags nacheinander zu beiden Proben ging. Die Tasche wurde durch den beißenden Sidol-Geruch für jeglichen Lebensmitteltransport unbrauchbar – aus der Leihgabe meiner Mutter wurde also eine Dauerleihgabe.
Auch der Kantor des ESG – bei dessen Bruder ich zehn Jahre später Chorleitung studieren sollte – war dem Posaunenchor gegenüber, gelinde gesagt, skeptisch eingestellt. Irgendwann erwischte er mich mit meiner müffelnden Einkaufstasche im dunklen Flur des Seitenflügels und stellte mich zur Rede. Erst viel später, eben durch seinen Bruder, erfuhr ich, dass diese Skepsis gar nicht musikalische, sondern politische Wurzeln hatte. Märsche zu spielen, löste bei einigen Menschen, die wenige Jahre zuvor den Zusammenbruch des Dritten Reichs miterlebt hatten, schlicht Angst aus, die Zeit könne zurückgedreht werden.
Ich begriff diese Zusammenhänge nicht. Meine Familie hatte es verstanden, die Schrecken des Krieges aus meiner Jugend völlig herauszuhalten. Ich wanderte an jedem Morgen auf meinem Schulweg an bettelnden Kriegsversehrten vorbei, ohne mir etwas dabei zu denken. Lediglich samstags um 12 Uhr, wenn meine Mutter hin und wieder unvermittelt zusammenzuckte, wenn die Sirenen Güterslohs ihren wöchentlichen Test absolvierten, bekam ich einen kleinen Schreck. Warum meine Mutter so reagierte, wurde mir allerdings erst viel später klar.
Als kleiner Junge hatte ich gerne die Schützenkapellen gehört und war dem Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr Gütersloh kilometerweit hinterhergelaufen, um besonders die Posaunisten zu bewundern, weil sie immer in der ersten Reihe marschieren durften – klar, andernfalls hätten die Vorderleute permanent die Spitze der Posaunenzüge in den Kniekehlen gespürt. Ich jedenfalls nahm immer an, diese Instrumente seien besonders wichtig. Und mit 14 bekam ich eine gebrauchte Miraphone-Posaune, für die mein Vater 250 Mark zahlte. Endlich konnte ich das verbeulte Waldhorn zurückgeben. Wie mein Posaunenspiel in dieser Zeit geklungen hat, weiß ich nicht. Man könnte dies “Gnade der frühen Geburt” nennen – denn der Kassettenrecorder war noch nicht erfunden, und Tonbandgeräte waren etwas für Profis.
Und so hatte ich von jeher ein positives, unverstelltes Verhältnis zur Blechbläserei und sang mit ebensolcher Begeisterung in der Kantorei, auch wenn die “Alten Herren” des Posaunenchors dies höchst verdächtig fanden. (Den Begriff “Alte Herren” verwendeten sie gern selbst. Mir schauderte eher dabei. Mit Burschenschaftsherrlichkeit hatte ist denkbar wenig am Hut…).
Ein Aspekt machte mir meine Mitgliedschaft im Posaunenchor jedoch besonders attraktiv: Im Gegensatz zur Kantorei überwog im Posaunenchor ein gewisser lebensbejahender Gestus. Stress war ein Fremdwort, und nach jeder Probe ging es mit dem mir anvertrauten Ensemble zum „Groben“ (einer Kneipe unweit der Schule), wobei die Anteile zwischen beiden Freizeitgestaltungen schon bei meiner Amtsübernahme von August Wilhelm Schwedler deutlich in Richtung „Groben“ tendierten.
Im Gymnasial-Posaunenchor war man also 1968 in jeder Hinsicht entspannt. Das Wort cool gab es noch nicht im deutschen Sprachgebrauch – für die Mitglieder des Posaunenchors hätte es eigentlich erfunden werden müssen. An der unaufgeregten Grundhaltung der Penne-Posaunenchorler ändert sich auch nichts, als 1971 – im Angesicht des nahen runden Jubiläums – die Qualitätserwartung an das Ensemble von außen bedrohlich wuchs.
Als Präside standen mir ziemlich wenig Mittel zur Verfügung, an der besagten Qualität etwas fundamental zu ändern – mühsam guckte ich mir irgendwo ab, dass die Zählzeit 1 nach unten geschlagen wird. Und dass man bei dem unsäglichen Stimmungswalzer „Schön ist die Liebe im Hafen“, den ich im unübersichtlichen Archiv des Posaunenchors vorfand, nicht „3, 4“ vorzählen sollte, interessierte sowieso niemanden ernsthaft. Manchmal kam es mir vor, als gehöre es zu den Schlüsselqualifikationen eines Präsiden, vor dem Ensemble keinen nennenswerten Widerstand zu leisten.
Andererseits war der damalige Do-it-Yourself-Ansatz auch die heimliche Stärke des Penne-Posaunenchors. Viele der Bläser – darunter auch ich – brachten sich zu der Zeit, in der kommunale Musikschularbeit noch ein Mauerblümchendasein fristete, das Instrumentalspiel einfach selbst bei. Ohne Didaktik-Schnickschnack und Lehrbuch-Gedöns. In Sachen Eigenmotivation und Trotz-alledem-Gesinnung war der Posaunenchor am ESG zur damaligen Zeit zweifellos führend – das wusste auch das Kollegium: Der alte Sportlehrer August Köhring gab mir über Jahre hinweg Punkte am Reck, weil ich den Posaunenchor leitete. Quasi als doppelten Mutpunkt.
Die jährlichen Freizeiten in Hausberge bei Porta Westfalica halfen dann doch, die musikalischen Standards auf ein beachtliches Niveau zu heben. Die traditionellen Adventskonzerte in der Evangeliumskirche schafften sogar Gelegenheit zur Arbeit an der Intonation, und das Adventsblasen gab tierischen Ansatz. Beim letzteren lebten die hartgesottenen Altschüler in den ausgehenden 60er Jahren eindrucksvoll ihre Easy-Rider-Gesinnung aus – mir kam der adventssonntägliche Dienst an der Gemeinde vor wie ein Stockcar-Rennen auf Glatteis.
Angesichts des jahreszeitspezifischen Programmwechsels in Richtung Choralliteratur fühlte ich mich als Präside im Winter wohler als im Sommer. Die Transkribiererei nach B für die hohen Instrumente gingen mir allerdings auf die Nerven, und ich verstand im Nachhinein den alten Johannes Kuhlo, der sich nach der Gründung des Gymnasial-Posaunenchors 1871 in seiner Arbeit nur noch für die klingende Schreibweise stark machte und es damit tatsächlich schaffte, große Teile der Landbevölkerung aus den Militärkapellen fernzuhalten. Damals, 1968, wusste ich noch nicht, dass er eigentlich die „Branntwein-Pest“, also den Alkoholismus der Bevölkerung im Auge hatte, deren Super-Spreader er in den Militärkapellen vermutete.
Aus der Sicht 50 Jahre zurück erscheint mir die Tatsache, dass die Leitung des Posaunenchores immer in Schülerhänden lag, Hypothek und Schlüssel zum Erfolg zugleich zu sein: Natürlich sind im Beruf stehende Menschen besser vernetzt und verfügen über mehr Kenntnisse und Mittel, Ziele zu erreichen. Die eigene musikalische Entwicklung aber gerade in der Zeit, in der Indoktrinierung ohnehin besonders nervt, ohne Hilfe von außen in die Hand zu nehmen, stärkt alle Beteiligten ungemein. Ich jedenfalls habe es genossen, zu Beginn meiner musikalischen Berufsausbildung nicht ständig den Atem von Besserwissern im Nacken zu spüren. Viel von dem, was ich in der Zeit im Posaunenchor eher nolens als volens lernte, kam erst viel später in meiner Biographie zum Tragen. Ich persönlich gab zwar am Ende der Unterprima, nach dem 100. Jubiläum, mein Amt an Andreas Reckmann ab – der Gütersloher Gymnasial-Posaunenchor hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch schon die wichtigste Weiche in meinem Leben gestellt: in Richtung Musik.
Joachim Thalmann
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